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    Cannes 64 (Teil 3)

    By Dorothea Holloway | July 21, 2011

    In einigen der eindrucksvollsten Beiträgen von Cannes wurden Lebenswege, Schicksale, Probleme von Knaben behandelt. Bereits der Filmtitel The Kid with the Bike, der auf Preise abonnierten Brüder Dardenne, sagt uns, worum es geht: Der 12-jährige Cyrill ist so unglücklich, wie man nur als Heranwachsender sein kann. Sein Vater hat nicht nur sein “Ein und Alles”, sein Fahrrad heimlich verkauft, sondern den Sohn auch im Stich gelassen. Cyrill kommt in Kontakt mit Ganoven, aber … und so einen glücklichen Zufall können sich nur die Dardenne-Brüder erlauben, Cyrill trifft die allein lebende, warmherzige Friseuse Samantha, die den Jungen bei sich wohnen läßt. Wie Cecile de France diese fürsorgliche, so verständnissvolle, heitere, hübsche, junge Frau verkörpert, hat eben den unverwechselbaren, fabelhaften “Dardenne-Touch”. Wir verlassen das Kino frohen Mutes. Den Großen Preis der Jury gab es in Cannes für Le gamin au velo von Jean-Pierre und Luc Dardenne (Kamera: Alain Marcoen). Die Dardennes teilen sich den Preis mit Nuri Bilge Ceylan (Türkei), dessen Bir Zamanlar Anadolu’da dem Festival zu Ende einen filmischen Höhepunkt bescherte. Übrigens: Auch in Le Havre geht es um einen Jungen, einen Flüchtling, der gerettet wird. Beim Filmfest in München ging der Arri-Preis für die beste ausländische Produktion an Le Havre von Aki Kaurismäki.

    In We need to talk about Kevin von Lynne Ramsay (Kamera: Seamus McGarvey) ist dieser Kevin von Anfang an ein sonderbar schwieriges Kind, zu dem die überforderte Mutter einfach keinen Zugang findet. Sie sucht die Schuld bei sich. Es ist wohl nur Tilda Swinton gegeben, diese an Schuldgefühlen leidende, unglückliche Mutter zu gestalten, die zu dem geliebten Sohn, es ist ein Wunschkind, keinen Zugang findet, wie herzzerreißend und alle Unarten des Sohnes erduldend, sie sich auch bemüht. Kevin verweigert sich, je älter er wird; jedoch nicht dem Vater. John C. Reilly überzeugt als Vater, der von all den Schwierigkeiten, dem Mutter-Sohn-Drama einfach nichts mitbekommt oder sich verschließt. Für Kevin gibt es drei Darsteller; Ezra Miller, der neben Tilda Swinton den 15-jährigen spielen darf, ist ein talentierter Bursche.

    Michael von Markus Schleinzer

    Aus einem bemerkenswertem Gespräch, das Ursula Baatz mit Markus Schleinzer führte: “In der Arbeit an Michael ging es einerseits um den erzählten Inhalt, die letzten fünf Monate des unfreiwilligen Zusammenlebens eines 35-jährigen Mannes und eines 10-jährigen Knabens. Andererseits, und das war mir vorrangig, die Art und Weise, wie man eine solche Geschichte erzählen kann. Es ist ein Täterfilm.” Michael Fuith gestaltet die diffizile Hauptfigur bewundernwert subtil. Michael ist Mitte 30, im alltäglichen Berufsleben unauffällig, ein freundlicher Kumpel, jedoch in seinem Haus im Keller eingesperrt, ein Entkommen ist absolut unmöglich, hält er den 10-jährigen Knaben Wolfgang (sehr natürlich, unbelastet: David Rauchenberger) wie einen Sklaven gefangen. Er versorgt ihn mit dem Nötigsten: Essen, Dusche etc. Fernsehen, Bett. Wir ahnen es. Michael ist Päderast. Schleinzer läßt diesbezügliche Handlungen nicht zu, Andeutungen genügen. Das ist das Erstaunliche an diesem Debutfilm (Kamera: Gerald Kerkletz). Ich schaue interessiert zu, bin tief erschrocken: Das Alltägliche und das Schreckliche kommen zusammen. Ich hoffe auf ein erträgliches Ende, ein wichtiger Film.

    Anmerkung: Markus Schleinzer, 1971 in Wien geboren, arbeitete von 1994 bis 2010 als Casting Direktor. Zuletzt betreute er auch als Trainer die Kinder in Das weiße Band von Michael Haneke (siehe KINO 96 von 2009).

    Ein Meisterwerk aus der Türkei

    Unvergesslich die Totale in Once upon a Time in Anatolia von Nuri Bilge Ceylan, wenn durch das nächtliche Niemandsland drei Autos unterwegs sind (Kamera: Gökhan Tiryaki). Und dann nahe: die Menschen in den Autos. Sie sind unterwegs, um ein Verbrechen aufzuklären, um den Ort zu finden, wo ein Getöteter verscharrt wurde. Charakterzeichnungen: ein Trupp Dorfpolizisten, die Fahrer, ältere Männer – etwas nervös auch ängstlich – voller Angst der Mörder, der die Stelle finden soll, wo er sein Opfer vergraben hat. Aus der Stadt kommen der Arzt und der Untersuchungsbeamter, Akademiker, besorgt, es könnte ein noch schlimmeres Ende nehmen. Die Nachtfahrt eines rollenden Einsatzes, ein Drama. Der Arzt muss eingreifen, als einer der Polizisten den Verbrecher schlägt, weil der den Platz nicht finden  kann oder nicht finden will. Da ist die Kamera wieder weit weg. Ganz zu Recht bekam Nuri Bilge Ceylan in Cannes zu gleichen Teilen mit den Dardenne-Brüdern den Großen Preis der Jury. 2008 wurde Ceylan in Cannes für Three Monkeys mit dem Preis für die beste Regie geehrt (siehe KINO 93, 2008).

    Anmerkung: In der Türkei läuft es mit der Wirtschaft bestens. Das scheint auch der Kunst gut zu tun. 2006 ging der Nobelpreis für Literatur an Orhan Pamuk; bei Sotheby’s in London war 2010 eine Auktion : “Moderne Kunst aus der Türkei” und bei der Berlinale 2010 gewann Semih Kaplanoglu für den Spielfilm Bal (Honig) den Goldenen Bären (siehe KINO 97, 2010).

    Sean Penn in zwei Filmen in Cannes

    Im Palme-Gewinner The Tree of Life war Sean Penn dabei und in This must be the Place von Paolo Sorrentino  trägt er den ganzen Film, der den Preis der Ökumenischen Jury gewann. Penn kam mir ganz fremd vor. Als aufgetakelter, geschminkter alter Rockstar mit wüsten schwarzen Locken schlurft er durch die Gegend und zieht einen schwarzen Rollkoffer hinter sich her.Ein Bild, das haften bleibt. Drogen haben seine Gesundheit kaputt gemacht, seine Sprache ist mehr ein Lallen. Er nennt sich Cheyenne und schleppt sich quer durch die USA, um einen alten KZ-Wachmann zu finden, der seinen Vater einst erniedrigte. Paolo Sorrentino konnte außer Sean Penn mit fabelhaften Schauspielern arbeiten: Judd Hirsch (Mordecai Midler), Dean Stanton (Robert Plath), Frances Mc Dormand (Jane), Heinz Lieven (KZ-Wachmann) und an der Kamera: Luca Bigazzi.

    Andreas Dresen in Un Certain Regard

    Am Schluss von Andreas Dresens Wolke 9 gab es in Cannes 2008 standing ovations, den Prix Coup de Cœur (Publikumspreis) und u. a. in KINO 93 von 2008 eine Lobeshymne. Dieses Jahr war Dresen und seine fabelhaften Schauspieler, die so überzeugend improvisieren können – Ursula Werner war auch dabei – mit Halt auf freier Strecke wieder in Cannes in der Offiziellen Auswahl des Un Certain Regard. Es war ein schöner Erfolg (Kamera: Michael Hammon). Oft hat Dresen nicht viel mehr als eine realistische Grundidee: ganz normale Menschen wie du und ich müssen mit unerwarteten Problemen, ja, Schicksalsschlägen fertig werden (siehe dazu Gregor Sedlag hier). Dresen kann auch anders. Nach Drehbüchern des verehrten, wunderbaren Dichters Wolfgang Kohlhaase entstanden u. a. Summer in Berlin und Whisky with Vodka (siehe KINO 100, 2011). Der Hauptpreis in der Sektion Un Certain Regard Cannes 2011 wurde ex aequo verliehen: an Andreas Dresen und an Kim Ki-Duk für Arirang aus Korea.

    Korea

    Über Kim Ki-Duk – 1960 in Südkorea geboren – hat Ron Holloway in Kinema, A Journal for Film and Audiovisual Media, Fall 2007 ausführlich geschrieben. So beginnt der Bericht:

    “Kim Ki-duk’s Breath: With 14 films to his credit in eleven years, South Korea’s Kim Ki-duk, a director with a social conscience and a style to match, is often compared to another quick-on-the-draw cult director: Germany’s Rainer Werner Fassbinder. And like Fassbinder, Kim tends to repeat himself in depicting the struggles of outsiders to find a place in society at whatever cost … Kim’s festival record is impressive …Venice … Moscow … Locarno …Karlovy Vary … Mar del Plata …Chicago …”

    Im Cannes 2011 Katalog steht:

    “Arirang is about Kim Ki-duk playing 3 roles in 1. Through Arirang I climb over one hill in life. Through Arirang I understand human beings, thank the nature, and accept my life as it is now. Arirang: director – scenario – dialogues – photo – montage – sound – cast – production – Kim Ki-duk!”

    Wie in Cannes 2010 war Korea auch in 2011 bestens vertreten. Nicht nur mit dem Preisträger Kim Ki-duk sondern auch mit dem Spielfilm The Yellow Sea von Na Hong-jin, mit Kurzfilmen und dem Spielfilm The day he arrives von Hong Sangsoo (Kamera: Hyung Koo Kim). In das Künstlerviertel von Seoul Bukchon, hier gibt es Kaffees, Galerien, in schönen alten  Häusern Bibliotheken, kommt Professor Sungjoon, der auch ein Filmemacher ist, um einen alten Freund zu treffen. Der Freund beantwortet nicht das Telefon. Sungjoon schlendert durch die Straßen, trifft Freunde, alte Bekannte, eine Schauspielerin, Filmstudenten; er trinkt auch mal alleine Reiswein, wird betrunken. Geschieht das alles an einem Tag oder doch an zwei oder drei? Sungjoon besucht eine Bar, ist die Eigentümerin eine Freundin aus vergangenen Zeiten? Eigenartig, er setzt sich ans Piano und spielt… ist Sungjoon wirklich angekommen? Yu Junsang gestaltet Professor Sungjoon, er war auch in Hong’s Hahaha dabei, der in Cannes 2010 preisgekrönt wurde.

    Anmerkung: Die Olympischen Winterspiele im Jahre 2018 werden im südkoreanischen Pyeongchang ausgetragen.

    Wie Andreas Dresen hat auch Gus van Sant ein schweres Menschenschicksal in Restless (Kamera: Harris Savides) in den Mittelpunkt gestellt, das uns alle sehr berührt. Ein junges Mädchen hat nur noch wenige Monate zu leben; sie hat Krebs. Wie Mia Wasikowska diese sterbende Annabel verkörpert – ohne Weh und Ach – ist bewundernswert. Enoch (Henry Hopper) und Annabel treffen sich zufällig auf dem Friedhof, wo der noch sehr junge Enoch an der Beerdigung seiner Eltern teil nimmt, die bei einem Unfall umkamen. Obwohl ich bei Restless in dunkle Trauer versinken könnte, bleibt es doch ein tröstliches Erlebnis. Wieder sind es ganz junge Menschen, die sich selbst entfremdet oder mit schwerem Schicksal, von denen Gus Van Sant (1952 in Kentucky, USA geboren) zu erzählen weiß. Immer sind seine Charaktere ausgesprochen glaubhaft. In Kinema, A Journal for Film and Audiovisual Media, hat Ron 2003 (Fall) und 2007 (Fall) über Gus Van Sant geschrieben.

    Pedro Almodovar und Nanni Moretti

    Zwei Werke von Meisterregisseuren, die ich mir gerne noch mal ansehen würde. Von Nanni Moretti Habemus Papam (Kamera: Alessandro Pesci), weil der Papst, der erkennt, dass er der Aufgabe nicht gewachsen ist, von dem einzigartigen Michel Piccoli verkörpert wirrd. Ein Geschenk. Und weil es Moretti gelingt, ein so ernstes Thema wie eine Tragi-Komödie  à la Shakespeare zu behandeln; zudem gibt Moretti selbst den Psychoanalytiker, der dem gerade gewählten Papst “auf die Sprünge” helfen soll. Und noch ein Grund: Ein Wiedersehen des polnischen Schauspielers Jerzy Stuhr, der als Filip Mosz in Camera Buff ( 1979 ) von Krzysztof Kieslowski für mich unvergesslich bleibt. Natürlich war Jerzy Stuhr in Habemus Papam als “Le porte-parole” auch ganz großartig.

    The Skin I live in von Pedro Almodovar sehe ich mir gerne noch mal an, weil der Chirurg Dr. Robert Ledgard von Antonio Banderas gespielt wird. Ich bin absoluter Banderas-Fan. Dieser Dr. Ledgard arbeitet und forscht seit 12 Jahren an der Entwicklung von Haut – La piel que habito (Kamera: José Luis Alcaine) – , die jeglicher Verbrennung widerstehen kann. Sein “Versuchskaninchen” Vera ist die zauberhafte Elena Anaya. Seit Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs (1988) bin ich ein Fan des spanischen Filmemachers und seines ganz besonderen Stils: Komödiantisch, aber Almodovar macht keine Komödien (! – ?) zu oft Bosheit, Groteske-  es kann sogar kitschig werden und zum melodramatische Thriller ausarten.

    Regisseure, die nicht nach Cannes kommen konnten

    Im Dezember 2010 wurde Jafar Panahi zu 6 Jahren Gefängnis und zu 20 Jahren Berufsverbot verurteilt. Bis zum Berufungsurteil kann er sich frei bewegen. Sein Kollege Mojtaba Mirtahmasb drehte ein mit der Videokamera ein Tagebuch mit dem Titel Dies ist kein Film. Mirtahmasb beobachtet Jafar Panahi in seiner Wohnung, zeigt dessen alltägliches Leben: ein Gespräch mit Kunststudenten, ein Telefonat mit der Anwältin. Panahi berichtet von einem Film, den er plante, bevor er verurteilt wurde. Wir sehen Ausschnitte aus Panahi-Filmen und der Regisseur erzählt von der Arbeit mit Schauspielern. In KINO 86 aus dem Jahre 2006 berichtet Ron Holloway u. a. auch über Panahi’s Offside. Die Komödie wurde bei der Berlinale 2006 ausgezeichnet.

    Den Regiepreis in der Sektion Un Certain Regard für Au Revoir (Be omid e didar) von Mohammad Rasoulof nahm seine Ehefrau entgegen. Rasoulof ist wie Panahi auch zu 20jährigem Berufs-, Interview- und Ausreiseverbot und zu Haftstrafe verurteilt. Good Bye ist leise, unaufdringlich, dafür um so überzeugender.  Eine Anwältin, Leyla Zareh, geht von Behörde zu Behörde, auch zu inoffiziellen, um einen Ausreisepass zu beantragen. Ihr Mann, ein Journalist, ist untergetaucht. Schon waren Polizisten in der Wohnung und stöberten nach belastenden Unterlagen. Die Amtsstuben sind grau, auch Leyla’s Gesicht wird aschfahl. Wie in dem Berlinale-Gewinner Nader und Simin. Eine Trennung von Asghar Farhadi geht es um Bleiben oder Gehen. Es spricht für die Brüderlichkeit unter den Menschen, dass beide Filme aus dem Iran in Cannes gezeigt wurden.

    Anmerkung: Zu Gast in Berlin. Farhadi’s  Goldener-Bär-Gewinner läuft zur Zeit in mehreren Kinos in Berlin. Asghar Farhadi selbst ist mit seiner Familie zur Zeit in Berlin, als Gast vom DAAD, Deutscher Akademischer Austauschdienst. Er arbeitet an einem neuen Film, der in Europa spielt. Große Freude! Viel, viel Glück!

    Die Filmstudentin aus Berlin, Doroteya Droumeva gewann den Hauptpreis des Kurzfilmprogramms in Cannes Cinefondation (15.000 Euro) für ihren Film Der Brief (30 Minuten). Dazu gehört die Einladung, ihren ersten Spielfilm in Cannes zeigen zu können. Herzlichen Glückwunsch!

    Das “Provençal Lunch” given in honour of the media of the Cannes Film Festival by the Mayor of Cannes unter den Bäumen vom Place de la Castre, le Suquet, gehörte für Ron und für mich immer zu den schönsten und erholsamsten Stunden in Cannes. Dieses Jahr saß ich mit Gregor unter den Bäumen.

    Dorothea Holloway

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