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Cannes 65
By Dorothea Holloway | August 1, 2012
Jeden Vormittag um 11 Uhr wurde ich im Salle Debussy von drei liebenswürdigen, wunderschönen Damen begrüßt: Malika, Letitia, Isabelle. Es ging um unser aller Sicherheit. Meine Taschen wurden inspiziert.
Natürlich hatte ich immer KINO – German Film Nr. 103 dabei. „What‘s new in German cinema?“ fragten mich dann die Journalisten aus USA und Kanada und blätterten dann auch gleich im KINO 103, die Ausgabe für Cannes. Da die drei Sicherheitsdamen so ausnehmend freundlich waren, erkundigte ich mich nach ihren Vornamen und gab ihnen auch mein KINO-Heft und sagte, ich sei die Herausgeberin. Am nächsten Vormittag, meine Taschen hatte ich bereits geöffnet, erhoben sich die Damen und sagten im Chor „Bonjour, Dorothea“.
Der Eröffnungsfilm
Ein liebenswürdiges Sommermärchen, ein „Pfadfindermovie“ Moonrise Kingdom (USA) von Wes Anderson – er hat sich auch diese grotesk-komödiantische Story ausgedacht – eröffnete heiter-unterhaltsam das Cannes-Festival. Wir tauchen ein in die nostalgische Atmosphäre der 60er Jahre, Neu England, ein Pfadfinderlager mit recht skurrillen Pfadfinderleitern – ganz wunderbar Edward Norton. Für die Welt der Erwachsenen hat Wes Anderson Top-Künstler gewinnen können: Bruce Willis, Harvey Keitel, Bill Murray, der in fast allen Anderson-Filmen dabei ist und Tilda Swinton als „Dame vom Jugendamt“. Sie alle umrahmen eine zauberhafte Liebesgeschichte zweier Jugendlicher: Sam (Jared Gilman) mit mächtiger Pelzmütze und Brille und Suzy (Kara Hayward) mit weißen Kniestrümpfen und Körbchen am Arm, beide 12 Jahre alt. Die Kinderdarsteller haben eine überwältigende Leinwandpräsenz. Wir zittern mit ihnen wenn sie heimlich das Pfadfinderlager verlassen. Die anmutige Suzy hat einen Plattenspieler dabei (60er Jahre) sie legen „Le temps d‘amour“ von Francoise Hardy auf und tanzen miteinander. Unvergesslich, eine magische Sommerliebe mit romantischem Touch und Wes Andersons Stammkameramann Robert Yeonman und Musik von Alexandre Desplat.
Der weitere Wettbewerb – Nach dem heiteren Auftakt folgten auch recht dunkle Beiträge
Gleich am 2. Tag von Cannes lief ein „Palmen-Film“ Rust and Bone von Jacques Audiard (Frankreich), eine nahezu unglaubliche Romanze zwischen Stephanie – überwältigend verkörpert von Marion Cotillard – und Ali (Matthias Schoenaerts), einem ehemaligen Boxer, der in einer Nachtbar als Rausschmeißer sein Geld verdient. Es liegen Klassen zwischen ihnen. Stephanie sitzt im Rollstuhl, da sie als Trainerin von Killerwalen von den Tieren angegriffen wurde und beide Unterschenkel verlor. Wann sollte man über einen Film ernsthaft nachdenken, fragte ich Ron. Seine Antwort: Wenn man ein Bild oder Szenen sieht, die man so noch nie gesehen hat. Das geschah bei Rust and Bone. Wie Ali die doppelt Amputierte Huckepack ans Meer trägt und behutsam zum Schwimmen ins Wasser gleiten läßt, – das sah ich so noch nie! Marion Cotillard hätte wahrlich eine Palme verdient.
Cosima Stratan und Cristina Flutur in Beyond the Hills von Cristian Mungiu (Rumänien) erhielten beide den Darstellerinnenpreis. Mit Recht. Beide haben keine Filmerfahrung. Flutur kommt vom Theater und Stratan ist gelernte TV-Reporterin. Wie in Cristian Mungiu‘s 2007 mit der Goldenen Palme ausgezeichneten 4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage sind es in diesem Glaubensdrama wieder zwei junge Frauen, deren Schicksal uns ohne Pathos in fast spröden und daher um so packenderen Bildern nahe gebracht wird. Kamera: Oleg Mutu. Die eng miteinander befreundeten Alina (Flutur) und Voichita (Stratan) waren zusammen in Deutschland im Weisenhaus. Voichita ist wieder in Rumänien und in ein Kloster eingetreten. Alina reist ihr nach und fleht Voichita an, mit ihr wieder nach Deutschland zu kommen. Die Nonne Voichita jedoch will in der Gemeinschaft des Klosters bleiben; sie hat zu Gott gefunden und überläßt die ungläubige Freundin den Ritualen des orthodoxen Klosters. Ein fürchterlicher Exorzismus beginnt: zunächst mit Gebeten, dann Verweigerung der Nahrung schließlich durch Kälte. So sollen Alina die bösen Dämonen ausgetrieben werden. Sie muss in der eiskalten Kirche schlafen. Alina stirbt. Wie beim preisgekrönten 4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage war Meisterkameramann Oleg Mutu auch bei Beyond the Hills für die eindrucksvollen, tief bewegenden Bilder verantwortlich.
Film ist Bild – habe ich von Ron gelernt. Cristian Mungiu erhielt für das Drehbuch den Prix de Jury.
Weise entspannt und mit leisem Humor erzählt uns Altmeister Ken Loach von vier jungen Kleinkriminellen aus Glasgow in der „Whisky-Komödie“ – The Angels Share (Kamera: Robbie Ryan). Zum Gemeindedienst verpflichtet und von einem gutwilligen Bewährungshelfer begleitet, lassen sich die bösen Buben in einer Whisky Destille erklären, was unter ‘Engelsanteil’ The Angels Share zu verstehen ist. Es ist die jährliche Verdunstung von sehr kostbaren Whisky durch die Fasswände. Alles klar? Von einem Fass, das zu Höchstpreisen versteigert werden soll, zapfen sich unsere cleveren Knackis etwas Engelsanteil ab und können die Kostbarkeit an wohlhabende Sammler verkaufen. Ken Loach zeigt uns Typen, die Fantasie haben und ihre letzte Chance zu nutzen wissen. Sein Optimismus kann Wunden heilen. Keine Gewalt, keine Ballerei. Danke, Old Ken, auf Dein Wohl trinken wir jetzt Malt Whisky aus Schottland!
Genug Ballerei gibt‘s dagegen in Andrew Dominiks Killing them softly – Buch und Dialoge auch von Dominik, an der Kamera der Stilist Greig Fraser. Wieder sind es Kleinganoven, die eine illegale Pokerrunde ausrauben wollen, das geht schief. Die Oberganoven heuern postwendend den Obervollstrecker an, Cogan, den Auftragskiller, um den Markt wieder zu beruhigen. Die Bosse müssen doch weiter Gewinne machen. Geld, Geld, Geld regiert die Welt. Wer harte Krimis mag, finster böse-lustige Dialoge und natürlich Thriller-Spannung, für den ist Killing them softly ein absolutes Muss! Zudem brilliert als lässiger Profi-Killer in Lederjacke Brad Pitt. Was will man mehr! !
Ein Höhepunkt des Filmfestivals war David Cronenbergs Cosmopolis, die gelungene Don DeLillo-Verfilmung der Zeitgeistnovelle aus dem Jahre 2003. Der sehr wohlhabende Banker, der gewissenlose Spekulant Eric Packer – ganz fabelhaft Robert Pattinson, von dem ich bei der Berlinale in Bel Ami (Regie Dedan Donnellan, Nick Ormerod) fasziniert war, läßt sich in seiner prächtigen, weißen Stretchlimousine durch Manhattan fahren, um am anderen Ende der Stadt, seinen Leib-und-Magen Frisör aufzusuchen. Es ist das Jahr 2000, der Präsident ist in New York, der Verkehr ist chaotisch, die Limo steht mehr im Stau als das sie fährt. Wir sehen das Elend der Riesenstadt auch den Glanz, eine Beerdigung zieht vorbei, ein Mann zündet sich an, Demonstrationen gegen das Finanzkapital werden bedrohlich, das weiße Luxusauto beschmiert, attackiert. Drinnen thront wie ein einsamer König Eric Packer und plaudert mit Menschen, die er ab und zu mitfahren lässt. Cronenberg hat die surrealen, komisch-bösen auch mal philosophischen Dialoge, die bereits das Ende der New Economy erahnen, aus DeLillos Buch in den Film übernommen. Mir fällt von JC Chandor der Film Margin Call ein, in dem das chaotische Treiben einer Investment Bank der New Yorker Wall Street gezeigt wird kurz vor der globalen Finanzkrise (KINO – German Film Nr: 100 aus dem Jahre 2011). Alles geschieht im Auto von Eric Packer, im geschlossenen Raum – essen, trinken, Sex, auch die Untersuchung vom Arzt. Nur seine Frau lehnt es ab, in den zehnmeterlangen weißen Wagen zu steigen, der von Bodyguards umgeben ist, einen tötet Packer. Das Business läuft, läuft ununterbrochen –keinen Kontakt zur Welt draußen, alles wird Geld – Geld – unheimlich – eine Parabel? Ist das die Welt, in der wir schon leben?
Wohl, weil ich selber alt bin, bin ich von Werken wie You ain‘t seen nothin‘ yet (Vous n‘avez encore rien vu) von Altmeistern der Regie wie Alain Resnais – er wurde im Juni 90 Jahre alt – immer so begeistert. Außerdem hat Alain Resnais Hiroshima, Mon Amour (1959) geschaffen, ein Lebensfilm für mich mit der wunderbaren Emmanuelle Riva, die wir alle in Cannes das Glück hatten, in Michael Hanekes so bewegenden „Goldene-Palme-Film“ Amour zu erleben. Dreizehn exzellente Schauspieler, die alle mal mit Resnais gearbeitet haben, werden eingeladen, sich die Filmfassung der Eurydike nach Jean Anouilh durch eine Off-Theater-Truppe anzusehen. Die Eingeladenen haben selbst mal in Eurydike mitgewirkt… Es folgt, was zu erwarten war: die hoch interessierten Darsteller gehen intensiv mit und beginnen, die Texte mitzusprechen, ja, Szenen gar mitzuspielen. Film im Film im Film, es wird richtig spannend und unterhaltsam. Danke, verehrter Alain Resnais.
Filme, die man nie vergisst: zum Beispiel: Das Fest (Festen,1998) von Thomas Vinterberg; und jetzt in Cannes wieder ein großartiger Vinterberg Jagten (The Hunt/La Chasse). Schon die Geschichte ist ungewöhnlich, verstörend, fast unglaublich. Dabei geht es nur um eine kleine Lüge, entstanden aus kindlicher Phantasie, aus verletzt sein. Der Vierziger Lucas – wunder-, wunderbar – Mads Mikkelsen – hat eine komplizierte Scheidung hinter sich und atmet wieder durch. Er ist ein netter Kerl, ein sympathischer Lehrer, hilfsbereit, und mit seinem Sohn im Teenager Alter, mit dem Lucas sich etwas auseinander gelebt hatte, Scheidung, scheint sich auch alles wieder einzurenken. Und da ist die kleine Klara, die sich vom Lehrer vernachlässigt fühlt und auf kindliche Rache sinnt. Lucas habe sich ihr unsittlich genähert, lügt sie. Natürlich ist Klaras Mutter aufgeschreckt und sehr besorgt. Dass das Töchterchen lügen könnte, kommt der guten Mutter nicht in den Sinn. Und keiner im kleinen Ort, keiner kommt auf die Idee, Klara könnte geschwindelt haben! Wir wissen, Lucas ist unschuldig und leiden mit ihm; alle anderen halten ihn für einen Kinderschänder. Wie kann, wie soll Lucas sich verteidigen? Mir fällt das Sprichwort ein: Wer sich verteidigt, klagt sich an. Und auch an Die Hexenjagd von Arthur Miller muss ich denken – die Abigail in Hexenjagd war meine erste Rolle. Wie kann Lucas seine Würde bewahren, wenn alle ihm die Untat zutrauen? Ein wichtiger Film zum Nachdenken, zum Weiterdenken. Mads Mikkelsen wurde in Cannes mit dem Schauspielerpreis ausgezeichnet.
Die Kamera von Darius Khondji ist ebenbürtig den Schauspielern Emmanuelle Riva und Jean-Louis Trintignant im Kammerspiel Amour von Michael Haneke. Nur eine dem stillen Werk dienende Kamera kann uns hineingleiten lassen in den Lebensabend von Anne, die auf dem Sterbebett liegt und Georges, der für sie da ist. Beide sind über achtzig. In dem kultiviertem Altbau voller Bücher geht das Leben zu Ende. Wer wird die Bücher nachher lesen? Tröstlich, die Tochter – bewundernswert zurückgenommen Isabelle Huppert – sie wird sich der Bücher und der Musikinstrumente annehmen; die Eltern waren Musiker. In FILM & TV KAMERAMANN 7/ 2012 schreibt Margret Köhler:
“Am Ende konnte es nur einen geben: Michael Haneke. Zum zweiten Mal nach Das weiße Band holte er die Goldene Palme. Sein Drama Amour (LIiebe, Bild: Darius Khondji, AFC, ASC; Schnitt: Monika Willi) ist ein subtiles Meisterwerk über das Sterben und die Liebe, über zwei Menschen, die sich in der letzten Lebensphase mit Zuneigung und Respekt begegnen, den schweren Weg bis zum Ende gemeinsam gehen…“
Hier ist der Platz, um mich bei Elisabeth Nagy zu bedanken. Sie schrieb in FILM & TV KAMERAMANN 2/ 2010 den Nachruf: Ron Holloway (1933-2009)
In KINO – German Film Nr. 103 auf Seite 3 ist ein Zitat von Ron.
Der aufregendste Beitrag in Cannes Holy Motors von Leos Carax wurde nicht ausgezeichnet. Ein Schlafwandler stößt in seinem Schlafzimmer an eine Art Vorhang, dahinter ist eine Leinwand – der eigentliche Film beginnt. Der wandelnde Mann im Pyjama ist Leos Carax selbst! Ist Holy Motors – die Story ist auch von Carax – vielleicht ein Traum des Regisseurs? Ein Wunschtraum – ein Albtraum mit überwältigenden Szenen und faszinierenden Bildern! In einer weißen Stretchlimousine lässt sich Monsieur Oscar – bewundernswert wandelbar Denis Lavant – durch Paris chauffieren, am Lenkrad die elegante, blonde Celine (Edith Scob). Monsieur, offensichtlich wohlhabend, hat in der geräumigen Limousine wie in einer Stargarderobe reichlich Schminksachen und Kostüme dabei. Nicht umsonst. Während der Fahrt durch die französische Metropole verwandelt sich Oscar in neun verschiedene Menschen: in eine Bettlerin, einen Akkordeonspieler, einen Sterbenden, einen Mörder, einen Familienvater, einen Monsieur Merde… Wir erleben „draußen in der Welt“ neun verschiedene Schicksale, neun brillante Kurzfilme. Innerhalb des Cannes Filmfestivals ein Kurzfilmfestival. Leos Carax hat Zitate aus Filmklassikern in Holy Motors eingebaut, die hätte Ron sicher erkannt und sich darüber gefreut.
Ich schreibe diese Lobeshymne über ein französisches Meisterwerk am 14. Juli 2012 – es ist der französische Nationalfeiertag.
Und noch etwas, was mich zunächst etwas irritierte: In Cannes gab es noch einen zweiten Wettbewerbsfilm mit einer weißen Zehnmeterlimousine, siehe Cosmopolis von David Cronenberg. Da ist es New York, in dem der Wagen mehr im Stau steht als dass er fährt.
After the Battle (Baad el Mawkeaa) von Yousry Nasrallah (Scenario & Dialogues: Omar Shama, Yousry Nasrallah, Kamera: Samir Bahsan) ist ein erstaunlicher Versuch, schon 2012 einen Film zu zeigen, in dem über die „horsemen“ – Männer zu Pferde – berichtet wird, die auf dem Tahrir Platz die Revolutionäre niederritten. Sehenswert.
Yousry Nasrallah war Assistent von Volker Schlöndorff und Youssef Chahin. Mit dem ägyptischen Meisterregisseur Youssef Chahin arbeitete Nasrallah als Co-Regisseur und Co-Autor an so wichtigen Filmen zusammen wie Alexandria. Ron Holloway war mit Youssef Chahin befreundet.
Noch eine Bemerkung zu Holy Motors: Könnte es sein, dass Träume mehr Wahrheit enthalten als die Wirklichkeit?
Dass Frauen aus Europa, etwas Geld müssen sie schon haben, in Kenia nicht nur am sonnigen Strand liegen wollen, sondern auch von jungen Kenianern – gegen Geld – Zärtlichkeit und Sex erwarten, davon hatte ich natürlich schon gehört. Gesehen habe ich es nun in Paradise Love von Ulrich Seidl. Die etwa 50jährigen, ziemlich dicken Frauen und die strammen, jungen Kenianer beuten sich gegenseitig aus; eine traurige Erkenntnis.
Paradise: Love – The first Film of the Paradise Trilogy by Ulrich Seidl.
Als Ulrich Seidls Import Export (2007) in Cannes im Wettbewerb gezeigt wurde, schrieb Ron Holloway in KINO – German Film Nr.91 u. a:
Import Export – for, as usual in Seidl‘s Films, some sex scenes are over-exaggerated for effect – the directors sympathy is clearly on the side of the exploited nurse working under degrading conditions in Vienna. And the performance of Ekateryna Rak as Olga touches the heart when she steals time at a hospital for the ill and aged to sing a lullaby on the phone to her infant child back home. The theme of Import Export ? Despair personified. That‘s what makes it so hard to overlook or forget this film.
Gestern Abend – 23. Juli 2012 – machte TV ARTE uns ein Geschenk: von John Ford wurde Der Teufelshauptmann (1949) mit John Wayne gezeigt. Der Originaltitel lautet She Wore A Yellow Ribbon.
Jack Kerouacs Sensationserfolg On The Road (Unterwegs) in der Regie der Brasilianer Walter Salles, der das rauschhafte Leben und Treiben – auch vor allem sexuell – junger Amerikaner der Nachkriegszeit der „Beat Generation“ (Geschlagene Generation) genial geschildert hat, ist erst jetzt auf die Leinwand gekommen. Vielleicht ist es ja auch fast unmöglich, aus einem literarischen Meisterwerk einen kongenialen meisterlichen Film zu machen. Gelungen ist es Volker Schlöndorff mit der Blechtrommel von Günter Grass. Walter Salles hat ein junges Team gewonnen, das sich mit Energie und Verve in das Abenteuer stürzte On The Road auf die Leinwand zu bringen. Vagabunden, oft ohne Geld, sind kreuz und quer „unterwegs“ durch die USA: Sinnsuche, Rausch, revoltieren gegen die etablierten Bürger. Spontanität ist Trumpf, grenzüberschreitend. Die Kamera, zum Teil Handkamera von Eric Gautier ist fabelhaft ebenso die Musik – jazzig – von Gustavo Santaolalla. Auf der Berlinale gewann Walter Salles 1998 für Central do Brasil den Goldenen Bären. On The Road hatte die Deutsche Premiere beim 30. Filmfest München. Sicher finde ich Kerouacs On the Road unter Rons Büchern. Ich werde den Roman lesen.
Sergei Loznitsa, seine kompromisslosen Dokumentarfilme erhielten viele Preise, wurde gleich mit seinem ersten Spielfilm My Joy nach Cannes eingeladen – siehe KINO – German Film Nr: 98 aus dem Jahre 2010. Seinen zweiten Spielfilm In The Fog ( V Tumane ) hat der aus Weissrussland stammende Loznitsa, seit einiger Zeit lebt er in Deutschland, fast ausschließlich in seiner Heimat angesiedelt, aber gedreht in Kanada. Es ist der 2. Weltkrieg, 1942. Heldenhaft kämpfen die Partisanen gegen die deutsche Besatzung. Als nach einem Anschlag auf die Deutschen die Gruppe der Partisanen aufgespürt wird, werden alle getötet nur Sushenya nicht. Nun halten ihn seine Kameraden für einen Verräter und die Partisanen Burov und Voitik sollen Rache üben. Im rauen, dichten Wald, besonders leidvoll und qualvoll für Sushenya, dem Verrat vorgeworfen wird, und der seine Unschuld immer wieder beteuert, erleben wir grandios und minimalistisch fotografiert von Oleg Mutu, ein Drama unter drei Männern. Ein großes Plus: ganz ohne Musik. Daran sollte sich mancher Filmemacher ein Beispiel nehmen! Mir fällt Jagten ein (Vinterberg), in dem auch ein total integerer Mann eines schlimmen Verbrechens beschuldigt wird, ein Zeichen unserer Zeit? Die drei Männer Sushenya (Vladimir Svirski), Burov (Vlad Abashin) und Voitik (Sergei Kolessov) sind faszinierend authentisch; sie geraten in einen Hinterhalt, einer der „Rächer“ wird angeschossen…
Von Sergei Loznitsa, der im Rahmen von Go East (18.bis 24. April 2012) eine Meisterklasse leitete, gab es ebenfalls bei Go East in Wiesbaden eine Werkschau. Siehe KINO – German Film Nr: 103 von 2012.
„The most talked about film at Cannes was Matteo Garrone’s Gomorrha (Gomorra; Italy), awarded the Grand Jury Prize,“ schrieb Ron Holloway 2008 in KINO – German Film Nr: 93. Nun in Cannes 2012 gab es für Matteo Garrone zum zweiten Mal einen Grand Prix du Jury, dieses Mal für sein satirisch-tragikomisches Reality. Es ist das ambitionierte Portrait des Fischhändlers Luciano (Aniello Arena) in Neapel, der koste es was es wolle, – er gibt sogar seinen kleinen Fischhandel auf, – im Fernsehen einen Auftritt ersehnt. Auch seine Großfamilie möchte ihren Luciano im italienischen Big Brother bewundern, im Grande Fratello. Vom Fischmarkt in die große weite Welt – berühmt werden. Seine Frau Maria unterstützt Luciano auf ihre Weise – mit kleinen Betrügereien. Sind es nur die kleinen Leute in Neapel, die vom „Glamour-Auftritt“ im Reality-TV träumen?! Vom Filmfest Venedig ist Matteo Garrone in die Jury berufen worden.
Von Ron weiß ich, wie tragisch die Zeit der Prohibition (1920-1933) in den USA war. Chancen wurden vertan, Familien zerstört, organisiertes Gangstertum entwickelte sich. Nach der wahren Geschichte der Brüder Bondurant – sie betrieben in Virginia eine Schwarzbrennerei – hat der Australier John Hillcoat das bemerkenswerte Leinwandepos Lawless gemacht: mit reichlich Ballerei, leiser Komik und hervorragenden Schauspielern (Kamera: Benoit Delhomme). Für Scenario, Dialoge, Screenplay und Musik, bei letzterer zusammen mit Warren Ellis, ist Nick Cave verantwortlich.
Vorweg: Where Is My Friend’s Home (1987) von Abbas Kiarostami war einer von Ron‘s Lieblingsfilmen. Nun hat der anerkannte iranische Filmemacher in Japan Like Someone In Love gedreht. Ron hätte die zarte Geschichte der schönen Studentin (Rin Takanashi), tagsüber fleißig Studierende, des nachts auch mal Call-Girl, sicher auch gemocht. Sie wird von dem liebenswürdigen Professor (Tadashi Okuno) mit einem gemütlichen Abendessen und Musik empfangen, sie ist aber so müde, legt sich ins Bett und schläft. Der Professor ist mehr erstaunt als enttäuscht. Als er die hübsche Studentin Akiko am nächsten Morgen durch die Stadt fährt, treffen sie ihren sehr eifersüchtigen Freund; er hilft ihnen, eine Werkstatt zu finden… Als die junge Frau und der gutmütige Professor, er könnte auch ihr Großvater sein, wieder in der mit Büchern vollgestopften Wohnung sind, wird ein Stein, die Fensterscheibe zerschmetternd, in die Studierstube geworfen.
Korea war mit einer Auswahl hochinteressanter und sehenswerter Filme nach Cannes gekommen, dazu eine informative Broschüre Cannes Special Edition. Zwei koreanische Spielfilme liefen im internationalen Wettbewerb:
In Another Country von Hong Sang-soo und The Taste of Money von Im Sang-soo. Der koreanische Filmemacher – Im Sang-soos The Housemaid lief im Wettbewerb von Cannes 63, wirft einen kritischen Blick auf die upper-class seines Landes. Den Reichen geht es nur um Geld, Macht und Sex, verschüttet sind echte Gefühle, Ethik und Moral. Mir fällt Kabale und Liebe von Schiller ein. Von Hong Sang-soo sind schon acht Filme in Cannes gezeigt worden, u. a. Hahaha 2010 in Un Certain Regard.
In Another Country besteht aus drei Teilen, über drei verschiedene Frauen wird berichtet, alle heißen Anne und alle werden von Isabelle Huppert verkörpert. Eine wunderbare Schauspielerin arbeitet zusammen mit einem Meisterregisseur; alles fotografiert von Kameraleuten, die ihr Handwerk verstehen, – Park Hongyeol, Jee Yunejeong, – da kann ja nichts schief gehen!
Drei Filme im Wettbewerb wurden mit German Money gefördert:
Amour von Michael Haneke (Goldene Palme)
Paradies: Liebe von Ulrich Seidl
In The Fog von Sergei Loznitsa
und Seance Speciale:
Müll im Garten Eden von Fatih Akin
Wo trifft man sich in Cannes u. a.
Im Pavillon No: 124 – bei FOCUS GERMANY
Und wo, wenn es schon ziemlich spät ist?
Im Pavillon No: 125 – bei den Türken, bei Ahmet
– Dorothea Holloway
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